14. März 2023

Teil 1: Auf dem Weg zur Toleranz

Um es gleich vorwegzunehmen – eine spezifische „Krefelder Toleranz“ im Sinne einer philosophischen Lehre existierte nicht. Im spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen Krefeld trafen sich keine Philosophen und Humanisten in der hiesigen Gastwirtschaft, um dort mit dem örtlichen Pfarrer über Toleranz zwischen den Religionen zu diskutieren. Um anschließend eine allgemeine Erklärung über die Toleranz zu verfassen und zu veröffentlichen. Nein. Die Toleranz wurde nach Krefeld importiert, als die Stadt nach dem schweren Stadtbrand von 1584 und einigen Jahren als Wüstung ab 1590 wiederbevölkert wurde. Umgeben von dem katholischen Territorium des Kurfürstentums Köln bildete sie samt hrer Bauernschaften und ihres überschaubaren Umlandes eine Insel, quasi ein Experimentierfeld. Was sich daraus – mit allen Schwierigkeiten – entwickelte, ist tatsächlich etwas Besonderes. Denn die von „oben“ erzwungene Toleranz ermöglichte eine vergleichsweise ungestörte Entwicklung verschiedener nebeneinander bestehender Bekenntnisse. In Krefeld kam es eben nicht zu allgemeinen Gewaltexzessen oder Vertreibungen gegen die zugewanderten Mennoniten und Menschen mit anderen Konfessionen. Man mochte sich zwar nicht, aber irgendwie konnte man doch miteinander leben, einander dulden, sich eben tolerieren.

Krefeld vor der ersten Stadterweiterung 1692. Innerhalb der Stadtmauer gab es noch freie Flächen. Die Bebauung konzentrierte sich im Bereich der heutigen Hochstraße, am Schwanenmarkt und der Evertzstraße. Im Nordorsten befand sich das Kloster.

Krefeld liegt auf der Mittelterrasse, an deren Rand sich eine Kette von Bauernhöfen befand.

Die Idee von der Toleranz

Der europäische Toleranzbegriff hat eine begriffliche Entwicklung hinter sich, die, beginnend im 16. Jahrhundert, bis in die Gegenwart reicht. Heute versteht man unter Toleranz die Anerkennung und Gleichberechtigung von unterschiedlichen Lebensformen und Lebensgestaltungen. Das ist maßgeblich eine komplette Neudefinition, die ihren Ursprung in einer Leidensform hatte. Toleranz sei die Duldung abweichender Überzeugungen, besonders auf dem religiösen Gebiet, definiert noch im Jahr 1898 ein Eintrag im Brockhaus. Der Toleranzbegriff ist zu Beginn aufs engste nur mit den christlichen Konfessionsgruppen verbunden – die Juden als Bevölkerungsgruppe waren hierbei ausgeklammert. Der christliche Glaube durchdrang und bestimmte in einem heute kaum noch vorstellbaren Maß das tägliche Leben. Die Kirche besaß elementare Bedeutung und bildete für das Leben jedes Einzelnen und für die Gesellschaft eine prägende Position. Sie gab die gültigen Werte vor. Es existierte im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nur eine Kirche mit ihrem Papst in Rom. Die mittelalterliche Herrschaft kannte keine Toleranz gegenüber Andersgläubigen, sondern sie sahen sich wegen der Verflechtung von geistlicher und weltlicher Macht verpflichtet, der katholischen Kirche bei der Verfolgung von Ketzern zu helfen. Das ändert sich in den folgenden Jahrzehnten der Reformation, nachdem 1517 Martin Luther (1483-1546) seine 95 Thesen veröffentlichte. Seitdem entwickelten sich verschiedene christliche „Ableger“, die wichtigsten sind die Lutheraner und die Reformierten (Calvinisten). Daneben gab es kleinere Gruppen wie die Mennoniten und Quäker.

Im Laufe des 16. Jahrhunderts keimt ein neuzeitlicher Gedanke von der Trennung zwischen kirchlicher Autorität und erstmals individueller Religiosität auf. Einen wichtigen Einfluss übte dabei der Neostoizismus aus, die Wiedererweckung der stoischen Ethik der Antike. Als Fortentwicklung des humanistischen Denkens bildete der Neostoizismus eine wichtige Triebfeder dieser Entwicklung und sprach die gebildeten Eliten des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts in vielen europäischen Staaten an. Katholiken ebenso wie Calvinisten begeisterten sich für diese neuen Ideen. Sie fanden darin einen überkonfessionellen Wertekatalog jenseits der dogmatischen Streitigkeiten der Konfessionen. Der niederländische Philologe, Philosoph und Historiker Justus Lipsius (1547-1606) war europaweit einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit. Seine philosophischen Abhandlungen über die Lehre der Stoiker waren von hoher Bedeutung für den Neostoizismus.

Wilhelm von Oranien (1533–1584) – Statthalter der Niederlande.

Er lehrte an der von Wilhelm von Oranien (1533-1584) gegründeten Universität Leiden. „Politicorum sive Civilis Doctrinae Libri sex“ (Politische oder bürgerliche Lehre, Buch sechs), das Hauptwerk des Neostoizismus von Justus Lipsius, diente als Handbuch der politischen Ethik und Psychologie, als Lehrbuch für Staatsmänner und als Anleitung für Verwaltungskräfte. Über das Verhältnis von Kirche und Staat meinte er, dass die Einheit von Religion und Staat ein Ideal wäre, um Streit und Aufruhr zu vermeiden. Die „Störer“ einer solchen Einheit sollten vom Herrscher bekämpft werden. Er solle allerdings einen Unterschied zwischen den aufständischen und den stillen Andersgläubigen machen. Diese Duldung der Stillen, diese Toleranz bedeutete eine beschränkte Religionsfreiheit. Ihren Schutz vor Verfolgung konnte nach Justus Lipsius nur eine starke Staatsgewalt sichern.

Toleranz beinhaltete in der Frühen Neuzeit (1500-1789) oft rein programmatische Überlegungen, um wirtschaftliche, politische oder territoriale Vorteile zu erzielen. Diese konnten jedoch auch von persönlichen Überzeugungen beeinflusst und auf nachfolgende Generationen „vererbt“ werden. Wie die Toleranz nach Krefeld bzw. an den Niederrhein kam, soll an zweien solcher Ansätze beispielhaft veranschaulicht werden.

Auf dem Weg zur Toleranz in den Niederlanden und Brandenburg-Preußen

Das erste pragmatisch-politische Beispiel ist zu Beginn des 17. Jahrhunderts am Niederrhein zu verorten, genauer gesagt in Kleve. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bestand damals aus einem gewaltigen Flickenteppich aus rund 1800 kleinen, mittleren und größeren Territorien sowie den freien Reichsstädten. Es reichte von Flandern im Westen bis zum Baltikum im Osten, von der dänischen Grenze bis nach Norditalien.

Das Heilige Römischer Reich Deutscher Nation um das Jahr 1618.
Quelle: Wikipedia

In den Territorien regierten in der Regel weltliche Herrscher also Grafen, Fürsten, Herzöge. Aber es existierten auch Territorien, deren Herrscher eben Geistliche waren wie Fürstbischöfe oder die Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier. Das weltliche Herzogtum Jülich-Kleve-Berg war nun ein „großer Batzen“ in diesem bestehenden Flickenteppich – blieb aber 1609 nach dem Tod des letzten Herzogs ohne männlichen Erbnachfolger. Für die aufgeteilten Ländereien am Niederrhein und in Westfalen gab es jedoch eine Vielzahl an Interessenten. Jetzt wirkte auf diesen Erbfolge-Konflikt ein wesentlicher Aspekt ein: die religiösen Konfessionen. Und nun wird es kompliziert. Seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 gibt es reichsrechtlich nur die Katholiken und die Lutheraner. Die Reformierten (Calvinisten) gehörten nicht dazu, obwohl einige Landesherren sich bereits zu dieser Konfession bekannten. Eine wesentliche Regelung aus dem Augsburger Religionsfrieden besagt: Die Religion des Landesherrn wird automatisch die Religion der Untertanen. Soweit die Theorie. In der Praxis gestaltete sich das schwierig, so auch bei der vorläufigen Lösung des Erbfalls in Jülich-Kleve-Berg und dem Ansatzpunkt für eine pragmatische Toleranzlösung.

Sigismund von Brandenburg (1572-1620), Markgraf von Brandenburg, ab 1608 Kurfürst von Brandenburg.

Am vorläufigen Ende des Konfliktes auf das reichpolitisch bedeutsame Erbe einigten sich 1614 die letzten Anspruchsteller im Vertrag von Xanten: Johann Sigismund von Brandenburg (1572-1620) und Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg (1578-1653). Zunächst wollten die beiden Parteien gemeinsam das Gebiet regieren, aber Wolfgang Wilhelm trat 1613 zum Katholizismus über, Johann Sigismund 1613 zum Calvinismus, der jedoch noch gar nicht als Religion im Reich anerkannt war. Im Vertrag von Xanten wurden die Territorien aufgeteilt. Und beide Fürsten wollten ihre Macht in ihren Gebieten von Kleve-Jülich-Berg nun absichern. Das Problem war, dass die überwiegend katholischen Untertanen eine andere Religion hatten als ihre Landesherren. Und die Untertanen wollten nicht „wechseln“. Was also unternehmen? Der innere Friede und die Sicherung des Landes standen an erster Stelle. So erteilte Johann Sigismund den Ständen von Kleve und Mark die Bestätigung, die drei Konfessionen der Katholiken, Reformierten (Calvinisten) und Lutheraner nicht behindern zu wollen. Und damit der polnische König den brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund mit Preußen belehnte, musste der Brandenburger als Calvinist den Katholiken in seinem designierten Land die freie Ausübung ihres katholischen Glaubens zusichern. In beiden Fällen scheint das Interesse am territorialen Zugewinn größer gewesen zu sein und die religiöse Toleranz das kleinere Übel. Das galt dann auch für die Innenpolitik in Brandenburg. Der Gegensatz Katholiken-Lutheraner war zu dieser Zeit viel geringer als der Gegensatz zwischen Lutheranern und Reformierten (Calvinisten). Dass musste der Calvinist Johann Sigismund hautnah miterleben: Seine Ehefrau rief aus einem Fenster des Schlosses in Berlin einigen Passanten zu, sich ihren lutherischen Kaplan nicht nehmen zu lassen.

Der inner-brandenburgische Konflikt wurde aber gelöst. Lutheraner, Reformierte und Katholiken wurden toleriert und Sigismunds Sohn und Nachfolger Georg Wilhelm ließ 1619 verkünden, dass niemand unterdrückt werden solle, „der sonsten from und still zu leben begehret“. Eine vergleichbare Überzeugung herrscht schon etwas früher in den Vereinigten Niederlanden, dem noch folgenden zweiten Beispiel. Was sich in Brandenburg-Preußen wie dem Herzogtum Kleve-Jülich-Berg mit dieser Idee von Toleranz änderte, war ein nicht zu unterschätzender erster Schritt, Staat und Kirche zu trennen. Der Grundsatz „Der Landesherr bestimmt die Religion“ war quasi durch die Realität in den Territorien abgelöst worden und wesentlich für die weitere Entwicklung des Toleranzbegriffs.

Kurfürst Georg Wilhelm von Brandenburg (1595-1640) und Herzog von Kleve

Aber woher kam diese Toleranzidee in Brandenburg? Die anfangs unbedeutende Kurmark Brandenburg, der staatliche Kern des späteren Preußen, begann Mitte des 17. Jahrhunderts ihren politischen Aufstieg zur europäischen Macht. Ein wichtiger Schritt bildete 1613 der Wechsel Johann Sigismunds vom lutherischen Bekenntnis zum Calvinismus. Das öffnete dem Kurfürsten in Europa einige Türen. Bereits 1605 schlossen die Vereinigten Niederlande und Brandenburg ein Bündnis. So lernten die Brandenburger den niederländischen Späthumanismus und die Neostoizismus-Lehre von Justus Lipsius kennen. Auch an der kurmärkischen Landesuniversität in Frankfurt an der Oder wurde diese Lehre unterrichtet. Noch vor dem Übertritt von Johann Sigismund studierte schon eine Generation von Staatsbediensteten die Ethik und Staatsauffassung des Neostoizismus. Bei dem reinen Wissenstransfer bliebt es nicht: Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688) hat die engen persönlichen wie wissenschaftlichen wie kulturellen Beziehungen zu den Niederlanden durch seine Ehe mit der Tochter des Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien (1584-1647), Louise Henriette (1627-1667), weiter verstärkt. Zu seinen Lebzeiten bestand ein reger Austausch auf vielfältigen Ebenen zwischen den Niederlanden und Berlin, sein direktes Umfeld kam von oder hat dort studiert.   

Vorbild Niederlande – das zweite Beispiel

Die „Union von Utrecht“ (1579) gilt als Gründung der Republik der Vereinigten Niederlande. Darin wurde die Konfessionszugehörigkeit zur Privatsache erklärt. Die Aussage von Georg Wilhelm von Brandenburg „der sonsten from und still zu leben begehret“ wird ihren Ursprung bei den Oraniern haben. Für sie galt: Der stille Ketzer wird nicht aufgespürt und nicht bestraft. Solche stillen und unauffälligen Ketzer waren unter anderem die Mennoniten. Sie hatten sich als arbeitsame, bescheidene, zurückgezogen lebende, aber vor allem als wirtschaftlich erfolgreiche und absolut friedfertige Untertanen bewährt.

Der Ausgangspunkt der oranischen Toleranz mag bei Wilhelm von Oranien, einem bekennenden Reformierten (Calvinist), und seinen persönlichen Überzeugungen und/oder Einflüssen von damaligen Staatstheoretikern wie Justus Lipsius gelegen haben. Wilhelm von Oranien, aus einem deutschen Adelshaus stammend, kämpfte erfolgreich für die Unabhängigkeit der nördlichen Provinzen der Niederlande (die sogenannte Republik der Sieben Vereinigten Provinzen) gegen Spanien. Dafür wird der „Vater des Vaterlandes“ noch heute in der niederländischen Nationalhymne besungen: „Wilhelmus van Nassouwe ben ik, van Duitsen bloed“. Die niederländischen Territorien gehörten zu dieser Zeit rechtlich noch zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Trotz der staatlich garantierten Religionsfreiheit hing in den nördlichen Provinzen der Niederlande die religiöse Duldung oder Verfolgung von politisch-regionalen Umständen ab. Dem Magistrat von Middelburg befahl Wilhelm von Oranien zum Beispiel 1577 und 1582, die Mennoniten in der Stadt in Ruhe ihr Gewerbe ausüben zu lassen. Dieses niederländische Selbstverständnis bildet die Grundlage für die Brücke nach Krefeld. Vermutlich hat Prinz Moritz von Oranien, Sohn von Wilhelm von Oranien und der Erbe der Grafschaft Moers samt Herrlichkeit Krefeld,  erst aufgrund dieser Erfahrungen den Mennoniten Niederlassungsrechte in Krefeld eingeräumt. Als Walburga (1522-1600), die Gräfin von Moers, am 25. Mai 1600 starb, trat der Erbfall ein. In einem Vertrag mit Prinz Moritz von Oranien (1567-1625) hatte sie verfügt, das in Krefeld die „waere christelycke religie“, der Calvinismus, bewahrt werden solle. Das schien ihr mit dem Haus Oranien gesichert. Die fortan bis 1702 andauernde oranische Zeit sollte der Beginn des Zusammenlebens unterschiedlicher Konfessionen in Krefeld sein.

Moritz von Oranien (1567-1625)

Anna Walburga von Neuenahr (1522-1600), Gräfin von Moers

Neubeginn in Krefeld

Nach der Zerstörung Krefelds und der quasi Neugründung zu Beginn des 17. Jahrhunderts bildeten die Reformierten (Calvinisten) die zahlenmäßig geringere Oberschicht und die Katholiken die Mehrheit. Viele Einwohner werden es nicht gewesen sein. Moritz von Oranien musste daran gelegen sein, Menschen ins stark entvölkerte Krefelder Gebiet zu bringen – am besten die fleißigen Mennoniten. Für die Immigration warben die Oranier durch öffentliche Anschläge. Ab 1607 entsteht eine mennonitische Gemeinde durch Zuzügler bzw. durch Übertritte von Reformierten (Calvinisten). Während der Widerstand für eine Ansiedlung von Mennoniten in der Grafschaft Moers zu groß war und scheiterte, blieb dieser im neuaufzubauenden Krefeld eher gering, obwohl der Protest der Reformierten und Katholiken vielfach dokumentiert ist. Die staatlich angeordnete Duldung funktionierte soweit, dass man wohl friedlich miteinander, nebeneinander lebte. Der Ärger über die Zugezogenen blieb, zumal im Verlauf des 17. Jahrhunderts die Zahl der Glaubensflüchtlinge aus dem Umland nach Krefeld steigen sollte. Und das hatte auch mit dem Konflikt um das Herzogtum Kleve-Jülich-Berg zu tun: In Kleve mit den Gebieten Mark und Ravensberg herrschte der calvinistische Johann Sigismund, in den Herzogtümer Jülich-Berg der katholische Herzog Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg. Bis 1666 und dem Vertrag von Kleve gingen beide Parteien von einem ungeteilten Herzogtum aus, dann wurde die endgültige Teilung beschlossen.

Der katholische Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg begann 1654 im Herzogtum Jülich-Berg eine systematische Mennoniten-Verfolgung. Diese basierte wohl auf seinem persönlichen religiösen Eifer, die „Sekte der Wiedertäufer“ auszutreiben. Im Winter 1654/1655 flüchteten vor allem Jülicher Mennoniten an den nächsten für sie sicheren Ort: Krefeld. Etwa 70 Mennonitenfamilien mit gut 200 Menschen haben damals in Krefeld Zuflucht gefunden. Die Flüchtlinge kamen familienweise, nicht als Treck, unter ihnen auch die Familie von der Leyen aus dem bergischen Radevormwald. In der gerademal 60 Jahre alten, neuen Stadt mit rund 400 Einwohnern mussten die Menschen in den wenigen Häusern zusammenrücken.

Die Krefelder fühlten sich nun von ihrer oranischen Herrschaft im Stich gelassen. Die Reformierten – viele kamen nach 1600 als Glaubensflüchtlinge aus dem katholischen Umland in die neue Stadt – durften hier ausnahmsweise auf Unterstützung durch die Katholiken in der Stadt rechnen.

Stadtmodell von Krefeld: Katholisches Kloster an der mittelalterlichen Stadtmauer.

Weil Krefeld ein von der oranischen Regierung weit entfernter Ort sei, klagten sie, müsse hier das, was nirgendwo zugelassen wird, geduldet werden. Die Ablehnung äußerte sich darin, dass der Krefelder Magistrat sogar wagte, sich mit den oranischen Räten am Regierungssitz in Den Haag anzulegen: Die von Krefeld geforderte Toleranz sei in zivilen, staatlichen, geistigen und kirchlichen Angelegenheiten nur schädlich und nachteilig, hieß es. Doch alle Klagen halfen nichts. Die Mennoniten erhielten ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.

Krefeld nach der ersten Stadterweiterung und die vorgelagerte Burg Krakau.

Ob Toleranz oder finanzieller Vorteil für Moritz von Oranien bei der Ansiedlung der Mennoniten in Krefeld ausschlaggebend war, bleibt offen. Sein Vorhaben sollte sich für ihn und seine Nachfolger jedenfalls auszahlen. Ein Monopol auf die Idee, Glaubensflüchtlinge anzuwerben, darf Moritz von Oranien aber nicht für sich alleinig beanspruchen. Einen vergleichbaren Ansatz gab es beispielsweise im schleswig-holsteinischen Friedrichstadt: Wirtschaftliche Motive und damit verbundene religiöse Toleranz bildeten die Basis für die 1621 durch Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1597-1659) gegründete Stadt als Handelsstandort. Das dortige erste Haus wurde für den mennonitischen Bauherrn Willem van den Hove (1568-1647) errichtet. Er war maßgeblich an der frühen Stadtentwicklung beteiligt und holte ab 1623 weitere finanzkräftige Mennoniten in die Stadt. In der Folge siedelten sich dort Menschen verschiedener Religionen an. Der wirtschaftliche Erfolg stellte sich letztlich jedoch nicht ein, unter anderem wegen der Folgen durch den Dreißigjährigen Krieg, von dem Krefeld weitestgehend verschont blieb. Gegenwärtig leben in Friedrichstadt übrigens noch etwa 30 Mennoniten, die zur Gemeinde in Hamburg-Altona gehören. Die gelebte Toleranz in Krefeld sorgte seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert für weiteren Zuzug von Glaubensflüchtlingen. So lebten in Krefeld neben Reformierten, Katholiken, Mennoniten auch Labadisten, Neutäufer (Dompelaers) und Quäker. Sie mussten, im Gegensatz zu den anderen Konfessionen, in Einzelfällen mit handfesten Übergriffen und Gewalt in Krefeld rechnen, weil sie sich den Sitten und Gewohnheiten in der Stadt verweigerten. Im Allgemeinen wurden die Quäker von der Bevölkerung aber toleriert. Einige Reformierte und Katholiken besuchten sogar deren Predigten. Das tägliche Miteinander der christlichen Konfessionen sorgte wohl für eine gewisse Akzeptanz.

Auswanderung in die Neue Welt

Während sich in Europa die Idee der Toleranz, der Religionsfreiheit, nur langsam entwickelte, bot die Neue Welt ganz andere Freiheiten. Ein Land ohne Repressalien, wo sie ihren Glauben frei leben können – dieses Versprechen brachte der Theologe Franz Daniel Pastorius (1651-1719/20) im April 1683 nach Krefeld. Die Botschaft Pastorius’ stieß auf offene Ohren. 13 Familien aus Krefeld folgten dem Theologen in die Neue Welt. Im Jahr 1683 brachen Quäker und Mennoniten als erste organisierte Auswanderungsgruppe aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in Richtung Neue Welt auf. Am 6. Oktober gelangte die Gruppe an ihr Ziel, die Stadt Philadelphia im heutigen US-Bundesstaat Pennsylvania. Dort gründeten die Krefelder am 26. Oktober Germantown.

Modell eines Denkmals zur Erinnerung an die Auswanderer 1683 nach Nordamerika.

Auf ihrem Weg nach Pennsylvania 1683 erlebten sie bereits in Rotterdam zum ersten Mal den Sklavenhandel. Sie hörten in der niederländischen Hafenstadt auch grausame Geschichten von der Verschleppung der Menschen aus Afrika in die Neue Welt. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass sie im „Land der Bruderliebe“ Sklaven besitzen könnten. Die Realität an der Ostküste sah im 17. Jahrhundert jedoch anders aus: Puritaner und Quäker, die sonst für die allgemeinen Menschenrechte eintraten, hatten keine Skrupel mit dem Menschenhandel und hielten diesen nicht für Unrecht. 

Aus diesem Entsetzen formierte sich ausgehend von Neuankömmlingen ein Protest, der weit über eine Toleranzidee hinausreichte. Am 18. April 1688 wurde im Haus des Krefelders Thones Kunders (um 1654-1729) dieser erste öffentliche Protest gegen die Sklaverei in Amerika formuliert. Darin steht unter anderem: „Gibt es irgendjemand, der zufrieden wäre, wenn ihm so geschähe oder wenn man ihn so behandele, nämlich ihn verkaufte und für seine Lebzeit zum Sklaven machte? […] Sie sind schwarz, aber wir begreifen nicht, wie dies ein besseres Recht gibt, sie zu Sklaven zu machen, als weiße zu halten. Es ist uns gesagt, wir sollen allen Menschen tun, wie wir wünschen, dass uns selbst geschehe; kein Unterschied darf gemacht werden mit Rücksicht auf Nation, Abstammung und Farbe. […] Jetzt ist es für uns hier ein schrecklicher Gedanke, dass man in Pennsylvanien Menschen auf diese Weise knechtet.“ 

Fortsetzung folgt

Zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich die Einwohnerzahl in Krefeld aufgrund der Zuzüge und die daraus resultierende Wohnungsnot derart erhöht, dass die erste Stadterweiterung geplant wurde. Damit beginnt auch die letzte Phase der oranischen Zeit. Die Stadt ging 1702 an Preußen. Ein solcher Herrschaftswechsel bedeutet in der Regel einen Bruch. Nicht so in Krefeld. Durch die engen niederländisch-preußischen Beziehungen wurde der Toleranzgedanke im gleichen Sinne fortgeführt.

Dirk Senger

Veröffentlicht am: 14. März 20233153 Wörter15,8 Minuten LesezeitAnsichten Gesamt: 15580 Tägliche Aufrufe: 28